1.2 Vorbild Rom: Jesuitische Lehrsammlungen

Henrike Stein

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Das Anlegen einer umfassenden Sammlung von Kunstwerken, Büchern, physikalischen Instrumenten und anderen Objekten und die Nutzung als Lehrmaterialien im schulischen und universitären Kontext ist keine Erfindung der Kölner Jesuiten. Das Lehren und Lernen durch Anschauung, Erfahrung und Erkenntnis gewann in der jesuitischen Bildung Ende des 17. und vor allem im 18. Jahrhundert stetig an Bedeutung.[1] Diese Methode wurde in den verschiedenen Bildungsstätten der Jesuiten angewandt und weiterentwickelt. Die Basis dafür bildeten die jesuitischen Lehrsammlungen, die in den verschiedenen Niederlassungen auf unterschiedliche Weise angelegt wurden.[2] Das Collegium Romanum, das Jesuitenkolleg in Rom, galt dabei als beispielhaftes Modell sowohl in theoretischer als auch (sammlungs-)praktischer Hinsicht.[3]

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Ein übergreifendes Vorbild für jesuitische Lehrsammlungen war dabei die als Musaeum Kircherianum bezeichnete Sammlung in Rom.[4] Auch die Konzeption des Kölner Physikalischen Kabinetts ging auf Athanasius Kircher (1602–1680) zurück, der die Sammlung des Collegium Romanum geleitet und maßgeblich geprägt hatte. Diese war bereits von Christopher Clavius (1538–1612) und Christopher Grienberger (1561–1636) Ende des 16. Jahrhunderts angelegt worden. Sie hatten ein mathematisches Museum mit Lehrmaterialien, theoretischen Schriften und mathematischen Instrumenten in Clavius’ Studierzimmer eingerichtet, in dem erste Experimente durchgeführt wurden. Als Kircher in den 1630er-Jahren nach Rom kam, knüpfte er daran an. 1651 gilt offiziell als Jahr der Gründung des Musaeum. Als Leiter trug Kircher mithilfe von Stiftern und Schenkungen eine umfangreiche Sammlung zusammen: Bücher und Schriftgut, Antiken, Porträts, Graphiken, Zeichnungen, Münzen, Medaillen, historische und ethnographische Objekte, Naturalien, Kuriositäten und eine Vielzahl an naturwissenschaftlichen Instrumenten. Außerdem gehörten dazu eine Bibliothek, Laboratorien und ein Botanischer Garten. Das dahinterliegende Ideal war, den universalen (wissenschaftlichen) Makrokosmos und damit die göttliche Ordnung in einem Mikrokosmos abzubilden.[5] Darüber hinaus repräsentierte die Sammlung die jesuitische Wissenskultur, die sowohl vom Zentrum in Rom als auch durch das globale Jesuitennetzwerk geprägt war.[6]

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Das Frontispiz einer Sammlungsbeschreibung von 1678 zeigt das Musaeum im Collegium Romanum als einen großzügigen, idealisierten Raum, in welchem die Sammlungsstücke Besuchern präsentiert werden. In den realen Sammlungsräumlichkeiten des 17. Jahrhunderts sollen die Objekte relativ eng, in Klassen eingeteilt, aber auch in ihrer Verschiedenheit gekonnt vermischt (eleganti varietate permixta) auf Regalen, Tischen und Sockeln untergebracht gewesen sein.[7] Im Kölner Jesuitenkolleg befand sich mindestens ein Exemplar dieser Beschreibung von 1678, die teilweise als direktes Vorbild für die Konzeption der dortigen jesuitischen Lehrsammlung gedient hat.[8] Dies wird deutlich, wenn man beispielsweise die Visualisierung und Beschreibung des Sammlungsraumes oder die in zwei Kapiteln aufgeführten naturwissenschaftlichen Instrumente und deren Anwendung betrachtet. Nach Kirchers Tod übernahm 1698 der Wissenschaftler Filippo Bonanni (1658–1725) die Sammlung. Er ließ ein kurzes Inventar anfertigen, systematisierte die Sammlung und brachte sie in neuen Räumlichkeiten unter. 1709, also neun Jahre vor der Wiedereröffnung der Museumsräume 1718, legte Bonanni einen Katalog des Musaeum Kircherianum an.[9] Die Sammlung folgte der üblichen Einteilung einer Kunstkammer[10] in Artificialia, Naturalia und Scientifica. Dabei fällt die sehr große Zahl an Instrumenten, Apparaten und Maschinen auf, die die wissenschaftliche Ausrichtung der (Schul- und Lehr-)Sammlung verdeutlicht.[11]
 

Frontispiz
Gymnasialbibliothek, GBII+B399+C | Bildnachweis: Universitäts- und Stadtbibliothek Köln

Titelblatt des Kölner Exemplars
Gymnasialbibliothek, GBII+B399+C | Bildnachweis: Universitäts- und Stadtbibliothek Köln

Detailaufnahme Titelblatt
Gymnasialbibliothek, GBII+B399+C | Bildnachweis: Universitäts- und Stadtbibliothek Köln

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Daneben wurden in den großen und bedeutenden Jesuitenkollegien in Lissabon und Prag bereits im 17. Jahrhundert die Grundlagen mathematisch-physikalischer Sammlungen gelegt. Das Clementinum in Prag richtete beispielsweise 1722 ein Museum mathematicum Collegii Clementini ein.[12] Zudem existierten naturwissenschaftliche Sammlungen in Jesuitenkollegien der deutschsprachigen Gebiete wie in Dillingen oder Ingolstadt. Die Kollegien waren stets Teil der lokalen Universitäten. Während beispielsweise in Köln sowie in Ingolstadt, Mainz und vielen anderen Orten die Artistenfakultäten oder einzelne Lehrstühle von Jesuiten teils mitgestaltet, teils auch übernommen wurden,[13] entstanden in Dillingen und Paderborn regelrechte Jesuitenuniversitäten.[14]

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Die Bedeutung der Naturwissenschaften nahm in der jesuitischen Lehre im Verlauf des 17. Jahrhunderts und vor allem im 18. Jahrhundert zu. Bei der übergreifenden Betrachtung der Jesuitenkollegien im deutschsprachigen Raum kann festgestellt werden, dass die Integration der Physik als eigenständiger Disziplin in die Ratio studiorum bis Mitte des 18. Jahrhunderts andauerte und lokal auf verschiedene Weise ihre Ausgestaltung fand. Ein praktischer, experimenteller Physikunterricht wurde neben der theoretischen Lehre zunehmend wichtiger und folglich ausgebaut. Auch der Aufbau naturwissenschaftlicher Sammlungen zu Unterrichtszwecken wurde erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts ernsthaft betrieben.[15] Vor diesem Hintergrund ist das jesuitische Gymnasium Tricoronatum, in dem bereits im Verlauf des 17. Jahrhunderts Instrumente für die Lehre angeschafft worden sind, ein Gegenbeispiel. Die Gründung des Musaeum mathematicum erfolgte schon im Jahr 1702. Das Physikalische Kabinett des Kölner Jesuitenkollegs kann demnach als frühes Beispiel seiner Art im deutschsprachigen Gebiet herausgestellt werden.

 

Anmerkungen

[1] Siehe in diesem Kontext zum Beispiel die Abschnitte zur „Katholischen Aufklärung“ und „Jesuiten, Naturwissenschaften und Technik“ in: Markus Friedrich, Die Jesuiten. Aufstieg, Niedergang, Neubeginn, München / Berlin 2016, S. 334–355. Darüber hinaus zu den „Jesuiten und den Künsten“: Ebd., S. 355–391.

[2] Vgl. Friedrich, Jesuiten (wie Anm. 1), S. 284–355, vor allem: S. 312–320.

[3] Vgl. Angela Mayer-Deutsch, Das Musaeum Kircherianum. Kontemplative Momente, historische Rekonstruktion, Bildrhetorik, Zürich 2010, S. 85.

[4] Vgl. Mayer-Deutsch, Musaeum Kircherianum (wie Anm. 3), S. 85.

[5] Vgl. Andreas Grote, Vorrede – Das Objekt als Symbol, in: Ders. (Hrsg.), Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450–1800 (Berliner Schriften zur Museumskunde 10), Opladen 1994, S. 11–20, hier: S. 11.

[6] Vgl. Mayer-Deutsch, Musaeum Kircherianum (wie Anm. 3), S. 79–89. Als erste große, die Sammlung konstituierende Schenkungen müssen Alfonso Doninos Antikensammlung und die Medaillensammlung Papst Gregors XIII. angeführt werden.

[7] Vgl. Georgius de Sepibus, Romani Collegii Societatis Iesu Musaeum Celeberrimum. Cuius magnum Antiquariae rei, statuarum, imaginum, picturarumque partem ex Legato Alphonsi Donini, S. P. Q. R. A. Secretis, Munifica Liberalitate relictum, Amsterdam 1678; Mayer-Deutsch, Musaeum Kircherianum (wie Anm. 2), S. 94f. und S. 196–201.

[8] Vgl. Gunter Quarg, Naturkunde und Naturwissenschaften an der alten Kölner Universität (Studien zur Geschichte der Universität zu Köln 14), Köln u. a., S. 122.

[9] Vgl. zum Katalog als Quelle: Mayer-Deutsch, Musaeum Kircherianum (wie Anm. 3), S. 107–115. Die Rekonstruktion der vollständigen Sammlung findet sich auf den S. 117–185 und die der Instrumente auf S. 165–185.

[10] Aus der umfangreichen Literatur zur Kunstkammer siehe in diesem Kontext: Steffen Siegel, Die „gantz accurate“ Kunstkammer. Visuelle Konstruktion und Normierung eines Repräsentationsraums in der Frühen Neuzeit, in: Horst Bredekamp / Pablo Schneider (Hrsg.), Visuelle Argumentationen. Die Mysterien der Repräsentation und die Berechenbarkeit der Welt, München 2006, S. 157–182; Thomas Leinkauf, „Mundus combinatus“ und „ars combinatoria“ als geistesgeschichtlicher Hintergrund des Museum Kircherianum in Rom, in: Andreas Grote (Hrsg.), Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450–1800 (Berliner Schriften zur Museumskunde 10), Opladen 1994, S. 535–554.

[11] Vgl. Mayer-Deutsch, Musaeum Kircherianum (wie Anm. 3), S. 186–194. „Die zu konstatierenden Ordnungskriterien oszillieren also zwischen der Zuordnung zu selten auf ein Kapitel beschränkten einzelnen Objektgruppen (Gemälde, Obelisken, Luzernen, Musikinstrumente), einzelnen Kategorien (antiquitas, rarum, peregrinus), traditionellen, klassischen Systemen (Elemente, Stufenmodell) und dem alles verbindenden Spiel von ars, natura und techné.“ Ebd., S. 194.

[12] Vgl. Petra Oulíková, Clementinum. Kunstführer, Prag 2006, S. 35–64. Der Jesuit Caspar Pflieger (1665–1730) gilt als Begründer des lokalen Museum mathematicum. Zur Gründung des Kollegs und zur frühen Entwicklung der Mathematik im Clementinum siehe zum Beispiel: Georg Schuppener, Jesuitische Mathematik in Prag im 16. und 17. Jahrhundert (1556–1654), Leipzig 1999.

[13] Vgl. Karl Hengst, Jesuiten an Universitäten und Jesuitenuniversitäten. Zur Geschichte der Universitäten in der Oberdeutschen und Rheinischen Provinz der Gesellschaft Jesu im Zeitalter der konfessionellen Auseinandersetzung, Paderborn / München 1981, S. 80–109; Marcus Hellyer, Jesuit Physics in Eighteenth-Century Germany: Some Important Continuities, in: John O’Malley (Hrsg.), The Jesuits: Cultures, Sciences, and the Arts 1540–1773, Toronto 2000, S. 538–554, hier: S. 539.

[14] Vgl. Hengst, Jesuitenuniversitäten (wie Anm. 13), S. 168–204.

[15] Vgl. Hellyer, Jesuit Physics (wie Anm. 13), S. 542f.

Empfohlene Zitierweise
Henrike Stein, Vorbild Rom: Jesuitische Lehrsammlungen, aus: Gudrun Gersmann (Hrsg.), Das Physikalische Kabinett – Von der jesuitischen Lehrsammlung zum kulturellen Erbe (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00004), in: mapublishing, 2019 (Datum des letzten Besuchs).