1.1 Musaeum mathematicum: Die Anfänge des Physikalischen Kabinetts

Henrike Stein

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Das Physikalische Kabinett entstand Mitte des 17. Jahrhunderts als naturwissenschaftliche Lehrsammlung im Kölner Jesuitenkolleg. Der im Jahre 1537 in Italien gegründete Jesuitenorden hatte sich innerhalb kurzer Zeit zu einem international agierenden Netzwerk mit gegenreformatorischen und missionarischen Intentionen entwickelt. Die Jesuiten waren intellektuelle Eliten, die nicht nur theologisches Gedankengut, sondern auch Kunst, Kultur und Wissenschaft verbreiten sollten.[1] Ab 1542 kamen die Jesuiten auch nach Köln und initiierten das lokale Jesuitenkolleg in der Marzellenstraße, die erste Ordensniederlassung nördlich der Alpen. Bereits im Jahr 1556 übergab der Rat der Stadt Köln die Leitung des Gymnasium Tricoronatum, einer ehemaligen Kölner Burse, die kurz zuvor zu einem humanistischen Gymnasium umstrukturiert worden war, an den Jesuiten und Bürgermeistersohn Johannes Rethius. Das Gymnasium Tricoronatum blieb zwar eine städtische Einrichtung, wurde jedoch vom Jesuitenorden geleitet und maßgeblich geprägt. In der Folge entwickelte es sich zu einer der bedeutendsten historischen Bildungsstätten Kölns.[2] Zusammen mit den zwei anderen städtischen Gymnasien, dem Montanum und dem Laurentianum, bildete das Tricoronatum die Artistenfakultät der alten Kölner Universität bis zu deren Aufhebung im Jahr 1798. Das Physikalische Kabinett war folglich ein materieller Bestandteil der propädeutischen Lehre in Köln.[3]

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Nach der Übernahme des Gymnasium Tricoronatum wurde der Unterricht nach jesuitischem Leitbild neu strukturiert und gestaltet.[4] Die Naturwissenschaften wurden in den Fächern Logica und Physica gelehrt und waren seit dem 16. Jahrhundert grundlegend für das Studium an den höheren Fakultäten Medizin, Theologie und Jura.[5] Die 1599 eingeführte Ratio studiorum sah eine obligatorische Professur der Mathematik in den Jesuitenschulen vor,[6] wobei die Mathematik zunächst ein Teilbereich des naturwissenschaftlichen Unterrichts der gymnasialen Oberklassen war. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Bedeutungszunahme der Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert und vor allem im 18. Jahrhundert sowohl auf quantitativer als auch qualitativer Ebene wuchs auch der Anteil jener Fächer innerhalb der (jesuitischen) Lehre.[7] Bahnbrechende Entdeckungen auf dem Gebiet der Physik im Allgemeinen und der Astronomie und Geographie im Besonderen, neue Erkenntnisse über Mensch und Natur und technische Erfindungen veränderten die Welt und das Denken. Nikolaus Kopernikus (1473–1543), Galileo Galilei (1564–1642), René Descartes (1596–1650) und Isaac Newton (1643–1727) sind dabei nur eine Auswahl an prominenten Wissenschaftlern, deren Errungenschaften die Neuzeit und Moderne bis heute prägen.[8] Vor allem auf dem Gebiet der Physik stand die jesuitische Lehre allerdings zwischen den zwei Polen der traditionellen Naturphilosophie nach Aristoteles einerseits und den zeitgenössischen Positionen nach Galilei, Descartes und Newton andererseits, gegen die es teilweise religiös bedingte Vorbehalte gab. Während im 17. Jahrhundert mit jesuitischen Lehrbüchern, allen voran mit Werken des Naturforschers Athanasius Kircher (1602–1680) gearbeitet wurde, kamen schließlich zu Beginn des 18. Jahrhunderts auch die Schriften Newtons und Descartes‘ in die Jesuitenbibliothek.[9] Als Beispiel für die Fortschrittlichkeit der jesuitischen Lehre kann der relativ frühe Erwerb astronomischer Schriften Johannes Keplers (1571–1630) und Galileo Galileis[10] bis hin zu Gottfried Wilhelm Leibniz’ (1646–1716) erster Publikation De arte combinatoria für die Mathematik im Jahr 1667 gelten.[11] Unter den drei Kölner Gymnasien hatte das Tricoronatum damit in Hinblick auf die Naturwissenschaften eine Vorreiterrolle bei der Rezeption neuer Erkenntnisse und deren Integration in die Lehre im 18. Jahrhundert. Im Gegensatz dazu blieb die naturwissenschaftliche Lehrpraxis der Gymnasien Montanum und Laurentianum bis in die 1770er-Jahre auf tradierte Konventionen ausgerichtet.[12]

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Gymnasium Tricoronatum in der Stadtansicht von 1702
Historisches Archiv der Stadt Köln | Bildnachweis: Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_126332

Auf der Grundlage der theoretischen Schriften wurden im naturwissenschaftlichen Unterricht des Gymnasium Tricoronatum bereits im Verlauf des 17. Jahrhunderts praktische Versuche und Experimente mit Instrumenten durchgeführt. Dafür legten die Jesuiten eine Sammlung mathematischer und physikalischer Instrumente an und setzten sie als Lehr- und Anschauungsmaterial ein. Als didaktische und methodische Basis der Lehre dienten die Theorien jesuitischer Naturforscher wie Christopher Clavius (1538–1612), Christopher Grienberger (1561–1636) und Athanasius Kircher, die alle am Collegium Romanum unter der Anwendung von Instrumenten gelernt und geforscht hatten. Clavius und Grienberger hatten in Rom bereits Ende des 16. Jahrhunderts ein mathematisches Museum angelegt, das Kircher ab den 1630er-Jahren zum späteren Musaeum Kircherianum ausbaute. In Köln diente dieses als Vorbild für die Konzeption einer jesuitischen Lehrsammlung.[13] Das Physikalische Kabinett wurde schließlich im Jahr 1702 gegründet und in späteren Jahresberichten des Kölner Kollegs als Musaeum mathematicum verzeichnet.[14] Dabei handelte es sich um einen eigenen Raum sowohl für die Unterbringung der naturwissenschaftlichen Sammlung als auch für das Studium an den Instrumenten. Es befand sich im zweiten Obergeschoss im Ostflügel des Kolleggebäudes.[15]

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Vor dem Hintergrund dieser Ausstattung wurde der naturwissenschaftliche Unterricht am Tricoronatum im 18. Jahrhundert didaktisch und methodisch praktischer und ebenso strukturierter. Auch in den unteren Klassen gab es nun Mathematikunterricht.[16] Im Jahr 1729 wurde das Kabinett sogar durch eine Sternwarte erweitert, die sich oberhalb des Musaeum befand und durch den Sammlungsraum zu erreichen war. Neben dem Observatorium entstanden im 18. Jahrhundert weitere naturwissenschaftliche Einrichtungen. Dazu gehörten eine eigene mathematisch-physikalische Bibliothek, in der spezifische Fachbücher für die naturwissenschaftliche Lehre aufgestellt wurden, ein chemisches Laboratorium und eine kleine Apotheke. Auch für die anderen Unterrichtsfächer sammelten die Jesuiten vor allem im 18. Jahrhundert Lehr- und Anschauungsmaterialien und verwendeten diese aktiv im Unterricht. So entstand im Gymnasium Tricoronatum im Laufe der Zeit eine umfangreiche Lehrsammlung[17] nicht nur von physikalischen Instrumenten, sondern auch von Porträts,[18] Büchern,[19] Druckgraphiken, Zeichnungen,[20] Münzen und Naturalien.[21]

 

Anmerkungen

[1] Vgl. Christiano Casalini, Rise, Character, and Development of Jesuit Education: Teaching the World, in: Ines G. Županov (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Jesuits, April 2018 (Online-Version); URL: http://www.oxfordhandbooks.com/view/10.1093/oxfordhb/9780190639631.001.0001/oxfordhb-9780190639631-e-7?rskey=WsmZa4&result=1 (28.07.2019). Siehe auch John O’Malley (Hrsg.), The Jesuits: Cultures, Sciences, and the Arts 1540–1773, Toronto 2000.

[2] Vgl. dazu zum Beispiel Gerd Schwerhoff, Köln im Ancien Régime (Geschichte der Stadt Köln 7), Köln 2017, S. 304–317; Götz-Rüdiger Tewes, Das höhere Bildungswesen im alten Köln. Zu den Bursen und Gymnasien der alten Kölner Universität, in: Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds (Hrsg.), Bildung stiften, Köln 2000, S. 8–33, hier: S. 31f.

[3] Vgl. Karl Hengst, Jesuiten an Universitäten und Jesuitenuniversitäten. Zur Geschichte der Universitäten in der Oberdeutschen und Rheinischen Provinz der Gesellschaft Jesu im Zeitalter der konfessionellen Auseinandersetzung, Paderborn / München 1981, S. 99–109; Heinrich Rößeler, Das Gymnasium Tricoronatum von 1552 bis zur Französischen Revolution, in: Dreikönigsgymnasium Köln (Hrsg.), Tricoronatum. Festschrift zur 400-Jahr-Feier des Dreikönigsgymnasiums, Köln 1952, S. 24–40, hier: S. 24–35; Joseph Kuckhoff, Die Geschichte des Gymnasium Tricoronatum. Ein Querschnitt durch die Geschichte der Jugenderziehung in Köln vom 15. bis zum 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Rheinischen Museums in Köln 1), Köln 1931, S. 88–110.

[4] Vgl. Augustín Udías, Jesuit Contribution to Science. A History, Cham u. a. 2015, S. 1–16; Hengst, Jesuitenuniversitäten (wie Anm. 3), S. 53–72.

[5] Vgl. Gunter Quarg, Naturkunde und Naturwissenschaften an der alten Kölner Universität (Studien zur Geschichte der Universität zu Köln 14), Köln u. a. 1996, S. 2; Hengst, Jesuitenuniversitäten (wie Anm. 3), S. 109.

[6] Vgl. Quarg, Naturkunde (wie Anm. 5), S. 23–25. Siehe dazu auch Dagmar Mrozik, The Jesuit Science Network. A digital Prosopography on Jesuit Scholars in the early modern Science, Phil. Diss. Wuppertal 2018, S. 41–58; Udías, Contribution to Science (wie Anm. 4), S. 9–12; Hengst, Jesuitenuniversitäten (wie Anm. 3), S. 66–72.

[7] Vgl. Udías, Contribution to Science (wie Anm. 4), S. 1–50.

[8] Vgl. dazu zum Beispiel Floris Cohen, Die zweite Erschaffung der Welt. Wie die moderne Naturwissenschaft entstand, Frankfurt am Main 2010.

[9] Vgl. Quarg, Naturkunde (wie Anm. 5), S. 91–100; Udías, Contribution to Science (wie Anm. 4), S. 35–40. In der Veröffentlichung Principia Mathematica aus dem Jahr 1687 bewies Isaac Newton anhand der Gravitationslehre unter anderem eindeutig das heliozentrische Weltbild, das bereits fast 150 Jahre zuvor von Nikolaus Kopernikus konstatiert worden war.

[10] Vgl. Quarg, Naturkunde (wie Anm. 5), S. 61–65.

[11] Vgl. Quarg, Naturkunde (wie Anm. 5), S. 25–27.

[12] Vgl. Quarg, Naturkunde (wie Anm. 5), S. 106–109.

[13] Vgl. Quarg Naturkunde (wie Anm. 5), S. 122.

[14] Vgl. Quarg, Naturkunde (wie Anm. 5), S. 3–5 und S. 120–133; Kuckhoff, Gymnasium Tricoronatum (wie Anm. 3), S. 573–575.

[15] Vgl. Jahresbericht, 1754. In: Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 223 (Jesuiten), A 12 (Jahresberichte des Kölner Kollegs – 1675–1754 (1761)), fol. 267r. Zur Vorstellung eines Musaeum als frühneuzeitliches Studierzimmer siehe Angela Mayer-Deutsch, Das Musaeum Kircherianum. Kontemplative Momente, historische Rekonstruktion, Bildrhetorik, Zürich 2010, S. 86.

[16] Vgl. Kuckhoff, Gymnasium Tricoronatum (wie Anm. 3), S. 595; Frank Brill, Das optisch-physikalische Kabinett des Tricoronatums, in: Dreikönigsgymnasium Köln (Hrsg.), Tricoronatum. Festschrift zur 400-Jahr-Feier des Dreikönigsgymnasiums, Köln 1952, S. 118–121, hier: S. 120.

[17] Bekanntlich wurde ein großer Teil der Jesuitensammlung von den Franzosen 1794 nach Paris in den Louvre gebracht. Die Objekte des Physikalischen Kabinetts verblieben dagegen unangetastet in Köln. Zum Kunstraub in Köln und dem Raub am ehemaligen Kölner Jesuitenkolleg siehe zum Beispiel Bénédicte Savoy, Kunstraub. Napoleons Konfiszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen, Wien / Köln / Weimar 2011, S. 25–64, vor allem: S. 47–50.

[18] Vgl. Rita Wagner, „Hier van Godt allein die Ehre.“ Die Porträts des Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds, in: Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds (Hrsg.), Bildung stiften, Köln 2000, S. 100–119.

[19] Vgl. Wolfgang Schmitz, Die Kölner Gymnasialbibliothek. Buchbestände und Handschriften aus sechs Jahrhunderten, in: Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds (Hrsg.), Bildung stiften, Köln 2000, S. 84–93.

[20] Vgl. Christoph Bellot, Für Auge und Verstand. Grafische Sammlung und physikalisches Kabinett des ehemaligen Kölner Jesuitenkollegs, in: Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds (Hrsg.), Bildung stiften, Köln 2000, S. 120–147; Claudia-Alexandra Schwaighofer, col. – „ENVOI de COLOGNE“. Die Graphische Sammlung des ehemaligen Kölner Jesuitenkollegs in Paris, unveröffentlichtes Manuskript, München 2011, S. 33–46; Claudia-Alexandra Schwaighofer, Die druckgraphische Sammlung des ehemaligen Kölner Jesuitenkollegs, in: Markus A. Castor u. a. (Hrsg.), Druckgraphik. Zwischen Reproduktion und Invention (Passagen 31), Berlin / München 2010, S. 393–402; Dietmar Spengler, spiritualia et pictura. Die Graphische Sammlung des ehemaligen Jesuitenkollegs in Köln. Die Druckgraphik, Köln 2003.

[21] Vgl. Gunter Quarg, Naturwissenschaftliche Sammlungen in Köln, in: Hiltrud Kier / Frank-Günter Zehnder (Hrsg.), Lust und Verlust. Kölner Sammler zwischen Trikolore und Preußenadler, Köln 1995, S. 315–321, hier: S. 316. Das summarische Verzeichnis der Möbelen von 1774 nennt ein Natural Zimmer, in dem Münzen, Mineralien, Fossilien, zoologische und biologische Objekte aufbewahrt wurden. Vgl. Verzeichnis der Möbelen, 1774. In: Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 40 (Kirchensachen), A 17 (Verschiedenes - 1774–1777), fol. 3r.

Empfohlene Zitierweise
Henrike Stein, Musaeum mathematicum: Die Anfänge des Physikalischen Kabinetts, aus: Gudrun Gersmann (Hrsg.), Das Physikalische Kabinett – Von der jesuitischen Lehrsammlung zum kulturellen Erbe (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00004), in: mapublishing, 2019 (Datum des letzten Besuchs).